Corona - Krise als Chance?
Nachdem das Wort ‘Krise’ sowohl im Lateinischen wie im Griechischen crisis = entscheidende Wendung bedeutet, ist zu vermuten, dass auch in der aktuellen Corona-Krise mindestens zwei Aspekte zum Tragen kommen: Einerseits die entscheidende Wende Richtung Abgrund - auf bayerisch kurz ‘obbi‘, andererseits die Hoffnung auf eine entscheidende Wende in Richtung positiver Veränderung, bayerisch kurz ‘aufi’. Dieses Prinzip gilt an sich für jede Krise, von der persönlichen Lebenskrise - Stichwort ‘Midlife Crisis’ - bis zur gesamtgesellschaftlichen Krise - Stichwort Klima-Krise.
Natürlich fällt es schwer, in Zeiten, in denen Tausende von Menschen unter der aktuellen Situation leiden oder gar an deren Folgen sterben, über positive Aspekte der gegenwärtigen Krise nachzudenken. Das ist bei Corona nicht anders als bei anderen, das Leben und die Gesundheit der Menschen gefährdenden Krisen. Nicht nur an die immer wieder weltweit ausbrechenden Krankheits-Epidemien ist hierbei zu denken, sondern natürlich auch an Naturkatastrophen, Hunger, Krieg, Vertreibung und Flucht. Immer wenn es um Menschenleben geht, gilt es besonders sorgsam darauf zu achten, wie ich persönlich Stellung beziehen kann, ohne die Situation der Betroffenen dabei herunterzuspielen oder sie für intellektuelle Gedankenspielchen zu benutzen.
Diese Ausführungen dienen daher eher dem Zweck, über den Tag X hinaus, wenn auch diese Krise zumindest in ihren gravierendsten Auswirkungen überwunden sein wird, Perspektiven für eine Neuorientierung zu bieten. Dass dieses Neuorientierung überhaupt nötig sein wird, dies wird derzeit eigentlich auf allen Ebenen so behauptet und dargestellt. Das geflügelte Wort dazu lautet: “Es wird nie wieder so sein, wie vor Corona”. Meist klingt diese Aussage eher als Drohung denn als Verheißung,. Eigentlich klingt es immer erst einmal sehr pauschal und unspezifisch .
Da gilt es doch vielleicht, etwas genauer hinzuschauen, was konkret danach anders sein wird oder werden sollte.
Es heißt, dass jeglicher Schaden auch immer von irgend einen Nutzen begleitet werde. Oder. Wo viel Schatten, da muss zweifelsfrei irgendwo eine Lichtquelle sein (ohne die es den Schatten ja gar nicht gäbe). Daher kann man wohl auch im Falle der Corona-Krise davon ausgehen, dass sie nicht nur Schattenseiten produziert, sondern irgendwo und potenziell auch ein Stückchen Licht in ein Dunkel hineinwirft.
Wie erwähnt, es geht hierbei nicht um ein Kleinreden oder gar Ignorieren der katastrophalen und teilweise furchtbaren Konsequenzen der derzeitigen Situation. Darüber wird jedoch aktuell meiner Ansicht nach schon genug und bis ins letzte erschütternde Detail auf allen Kanälen berichtet. Mir geht es an dieser Stelle um ein andere Perspektive auf die gleiche Situation. Eine Perspektive, die möglicherweise Hoffnung macht und dazu beiträgt, dass zur äußeren Lähmung des gesellschaftlichen Lebens nicht noch eine von Panik begleitete Lähmung des eigenen inneren Friedens hinzukommt.
Als einen der offensichtlichsten Hoffnungsschimmer, um nicht zu sagen Lichtblicke der aktuellen Stopp-Situation des äußerlichen gesellschaftlichen Lebens kann man sicherlich die spürbare Atempause für die Natur und den Planeten bezeichnen. Selten hat man einen derart ungetrübt blauen Himmel ohne jegliche Spuren von Kondensstreifen gesehen, schon gar nicht im ständig und unaufhörlich überflogenen Mitteleuropa. Selbst von den Hochhausschluchten der Großstädte aus können die Menschen derzeit so etwas wie einen blauen Himmel wahrnehmen. Für manche soll es das erste Mal in ihrem Leben sein. Die Qualität der eingeatmeten Luft ist - unabhängig von der möglichen Durchsetzung mit Viren - an vielen Plätzen dieser Erde so gut wie seit langem nicht mehr. Die Natur scheint insgesamt tief durchzuatmen und sich ein wenig von den Strapazen der letzten Jahrzehnte zu erholen.
Das Gleiche gilt für den überwiegenden Teil der Menschheit: Zumindest potenziell hat ein guter Teil der in den Industrieländern derzeit ‘freigestellten’ Arbeitskräfte Zeit und Gelegenheit, sich unabhängig vom normalerweise alles bestimmenden Tages- und Wochenrhythmus des Arbeitsalltags zu bewegen. Wenn damit nicht massive Existenzsorgen verbunden wären, könnte man fast von einer erholsamen Zwangspause reden, die das immer gleiche und mitunter zu schnell getaktete Räderwerk des gewöhnlichen Lebensalltags zumindest stark verlangsamt. Die dadurch freigesetzten Energien können für manch einen eine willkommene Abwechslung und Möglichkeit sein, die Dinge zu tun, die man bisher immer hintan stellen musste - gemeinsame Familienaktivitäten, Haus- und Gartengestaltung, Hobbys.
Aufgrund der in den meisten Ländern staatlich angeordneten Einschränkung der Bewegungsfreiheit ist man allerdings dazu genötigt, sein Mehr an Freizeit im kleinen Kreis, am Ende sogar nur mit sich selbst zu verbringen. Die sonst üblichen Mittel zur Vermeidung genau dieser Situation - rege Reisetätigkeit, Shopping, Gaststättenbesuche und andere gesellschaftliche Veranstaltungen - sind zumindest vorübergehend außer Kraft gesetzt. Vielleicht ist ja auch hierin einer dieser Hoffnungsschimmer bzw. Lichtblicke zu erkennen: In einer immer mehr an äußeren Werten und Leistungen gemessenen Welt, die den Einzelnen zunehmend in ein ständig rotierendes Hamsterrad hineinmanövriert, ist es jetzt möglicherweise an der Zeit, innezuhalten und die eigenen Prioritäten im Leben neu zu überdenken. “Die wahre Erfüllung findet der Mensch nicht in der Arbeit, sondern in der Muße” soll einst Aristoteles schon erkannt haben. Vielleicht ist diese Entschleunigung des stark vom Wirtschaftsleben geprägten Lebensalltags der meisten Menschen eine gute Gelegenheit, sich grundsätzlich mit der Frage zu beschäftigen, worin denn nun eigentliche der tatsächliche Sinn und die Erfüllung des eigenen Lebens liegt.
Ein weiterer, sehr interessanter Aspekt der gegenwärtigen Krise ist die Wendung, die der in den letzten Jahren etwas überstrapazierten Begriffs ’systemrelevant’ erfährt: Wo vor gut zehn Jahren im Zuge der letzten großen Finanzkrise Banken und Großindustrie ,mit dem Schlagwort ‘systemrelevant’ belegt und - koste es, was es wolle - als unbedingt erhaltenswert eingestuft wurden, da scheint sich bei der Corona-Krise der Fokus reichlich verschoben zu haben. Auf einmal sind wie durch ein Wunder die tatsächlich systemrelevanten Stützen der Gesellschaft die umjubelten und mit viel Applaus bedachten Stars: Alten- und KrankenpflegerInnen VerkäuferInnen, PaketfahrerInnen, Reinigungskräfte und andere werden in ihrer ‘Systemrelevanz’ in einer Art und Weise gewürdigt, wie es ihnen eigentlich schon immer zu wünschen gewesen wäre. Auch der während der letzten Jahre zunehmend in Bedrängnis geratene so genannte Mittelstand, der normalerweise die gesunde Basis und das kräftigende Rückgrat einer Gesellschaft ist, soll vor dem endgültigen Untergang bewahrt werden und wird entsprechend - koste es, was es wolle - finanziell gestützt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es dieses Mal auf jeden Fall die Richtigen trifft, die als ’systemrelevant’ eingestuft werden. Die Frage, die sich in dieser Situation aufdrängt, ist: Wird diese Art der momentanen Wertschätzung auch nach Abkliongen der Virusepidemie anhalten? Werden die so genannten ’kleinen Leute’ auch weiterhin davon profitieren? Möglicherweise sogar finanziell? Ist nach dieser Krise ein allgemeines Umdenken in der Gesllschaft möglich? Weg von der als extrem unverhältnismäßig und wohl auch als ungerecht empfundenen Unterstützung des Großkapitals hin zur Wiederbelebung und Stärkung breiter Schichten der Bevölkerung?
An sich war es wohl nie die Idee einer intakten und gesunden Gesellschaftsform, dass ein sich täglich in systemrelevanter Weise in der Gemeinschaft betätigender Mensch wie ein/e Gesundheits- und KrankenpflegerIn einen Bruchteil dessen verdient, was im Gegensatz dazu beispielsweise ein Mensch verdient, der sich berufsmäßig damit beschäftigt, ‘das Runde ins Eckige’ zu befördern, sprich sich als Fußballspieler zu betätigen. Natürlich gibt es gute Gründe, warum ein Fußballspieler als Vertreter eines Massenphänomen und Volkssports eine angemessene Wertschätzung und Würdigung auch in Form finanzieller Entlohnung verdient hat. Im Sport wie auch in der gesamten Gesellschaft ist jedoch während der letzten Jahre die Schere und Kluft zwischen der erbrachten Leistung und dem damit verbundenen sozialen und finanziellen Status derart weit auseinander gegangen, dass man sich in dieser Hinsicht schon seit geraumer Zeit einen Reset-Button gewünscht hatte. Der nicht nur gefühlte Abstand zwischen Arm und Reich, zwischen extrem wohlhabend und am Existenzminimum lebend, ist ein weltweites Phänomen. Das Stichwort ‘Gewinnmaximierung’ hatte in diesem Zusammenhang schon seit längerem einen schalen Beigeschmack.
Zusammengefasst lässt sich also Folgendes feststellen: Wenn diese Aspekte auch nach der Krise noch irgend eine Beachtung finden bzw. im ’Nachgang’ vielleicht sogar noch mehr ins Bewusstsein gelangen sollten, dann besteht wirklich Grund zur Veranlassung zur Hoffnung, dass diese Krise nachhaltig positive Wirkungen zutage fördern kann.
Herausgefordert ist zum einen der oder die Einzelne, wie er oder sie mit einer solchen Erschütterung der ’normalen’ Lebensumstände persönlich umgeht. Baut man darauf, dass alles nur ein vorübergehender Spuk ist und hamstert so viele Vorräte, dass man zumindest einige Wochen in der Isolation verharren kann? Und wenn man dann aus dem eigenen Mauseloch wieder auftaucht, hofft man darauf, dass alles wieder so sein möge wie vor dem ‘Ausbruch’? Oder sieht man es als eine Möglichkeit, sich selbst neu zu arrangieren, das eigene Umfeld auf Wichtigkeit und Wertigkeit zu überprüfen. Welchen Stellenwert hat Familie, Freundschaft, soziale Beziehungen? Was bedeutet es, für ein begrenzte Zeit nicht aus dem Vollen schöpfen zu können, sondern sich in jeglicher Art von Konsum einschränken zu müssen? Die eigenen Ansprüche der realen Situation anpassen zu müssen?
Vielleicht liegt ja gerade in diesem Aspekt des eingeschränkten Konsums - und damit ist nicht nur der Konsum von so genannten Gebrauchsgegenständen wie Kleidung, Elektronik, Fahrzeugen etc. gemeint, sondern auch der zunehmende ‘Konsum’ von Freizeitaktivitäten - die Chance, die eigenen Prioritäten wieder neu zu ordnen. ´Die Wichtigkeit sozialer Beziehungen werden einem gerade in Zeiten des Kontaktverbots überdeutlich vor Augen gehalten. Wird diese Erkenntnis die Krise überdauern und werden wir uns möglicherweise auch danach noch im Zweifelsfalle für ein gemeinschaftliches Miteinander entscheiden statt für den mittlerweile üblich gewordenen sozialen Rückzug in die eigenen vier Wände und das damit meist verbundene Abtauchen in die virtuelle Welt?
Fragen über Fragen. Momentan haben viele Menschen ja vielleicht die entsprechende Zeit, um die individuellen Antworten darauf zu finden.
Auf der anderen Seite stehtt die Herausforderung für die bestehenden Gesellschaftsformen: Eigentlich könnte es dieser Welt mitsamt ihren BewohnerInnen so gut gehen wie nie zuvor. Es ist immer noch ein Ort der erstaunlichen Fülle und des natürlichen Reichtums. Es ist eher die Handhabung der zur Verfügung stehenden Ressourcen und ihre gerechte Verteilung, die das System mittlerweile überstrapazieren. Wieder einmal wird deutlich, dass jedes System nur bis zu einem bestimmten Punkt wachstumsfähig ist. Wenn die natürlichen Grenzen des Wachstums erreicht sind bzw. das System sich selbst zu vernichten droht, kann scheinbar nur ein vorübergehender Kollaps dazu führen, dass ein neues System wieder aufgebaut werden kann.
Werden daher die Gesellschaften und Nationen dieser Welt diese einzigartige Situation als Möglichkeit sehen, die bisherigen Systeme und Handhabungsweisen zu überdenken und in Frage zu stellen? Wird aus der derzeit weltweit zu beobachtenden Abschottungs- und Isolierungspolitik eine neue Art der Globalisierung entstehen? Eine Globalisierung, die den Globus selbst und seiner BewohnerInnen weniger ausbeutet und dafür sorgt, dass die Vielfalt und Fülle der vorhandenen Ressourcen gerechter verteilt werden?
Meine persönliche Hoffnung ist, dass der Mensch es noch immer schaffen kann, auch und gerade in dieser Situation seinem sich selbst verliehenen Titel als ’Krone ( =Corona) der Schöpfung’ gerecht zu werden. Möglicherweise will dieser Planet, auf dem wir alle eigentlich zu Gast sind bzw. sein dürfen, dem Menschen genau dazu wieder einmal ultimativ auffordern: Mensch, halte inne und besinne dich aufs wirklich Wesentliche!