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Über das Wandern


Als ich neulich dem Wald begegnete, traf es mich unvermittelt: Ich hatte einen neuen Gedanken. Zum ersten Mal gedacht und dennoch schon recht ausgereift. Der Gedanke war an sich schlichter Natur, vordergründig betrachtet. Er lautete: Ich liebe das Knirschen unter meinen Wanderstiefeln!

Die weiteren, daraus folgenden Fragen und Gedanken führten mich jedoch geradewegs (sic!) zu meinem Wesenskern bzw. dem Kern des Wesentlichen an sich.

Und so entwickelte es sich: Durch das Knirschen unter meinen Wanderstiefeln wird mir das Gefühl vermittelt, jeden einzelnen meiner Schritte ganz bewusst und gezielt zu setzen. Fast so, als wenn ich mir jeden einzelnen dieser Schritte erarbeiten müsste und sofort - sozusagen auf dem Fuße folgend - mit  meinem steten Vorankommen belohnt würde. .  

Dieser Gedanke und die damit zusammenhängende Erkenntnisse waren neu für mich. Sozusagen ein jungfräulicher Gedanke in meinem mittelalten Hirn. Damit hatte ich nach vielen Jahren des unbegründeten Umherwanderns eine plausible Erklärung  für meine ungebrochene Wanderlust gefunden. Immerhin wanderte ich mittlerweile im 58 Lebensjahr durch Wald und Flur, über Stock und Stein. Mindestens 33 dieser 58 Jahre tat ich dies mehr oder weniger bewusst und gezielt, mit Vorliebe in gebirgiger Umgebung.

Jeder Schritt also der erkennbare Nachweis einer vollbrachten, eigenfüßig erbrachten Leistung. Man kann eben beim Wandern sofort erkennen und sogar ermessen, wie weit man es gebracht hat. Fast wie im richtigen Leben. Wobei: man sich jedoch im besagten richtigen Leben mitunter schwer damit tut, zu ermessen, wie weit man es denn nun tatsächlich gebracht hat. Anhand von welchem Stabe will ich es ermessen? Ist es der erworbene Wohlstand, sprich Status, der den aussagekräftigsten Anhaltspunkt für ein erfolgreiches Leben ergibt? Oder ist es doch eher auf dem Gebiet der menschlich-persönlichen Eigenschaften, die man im Laufe seines Lebens erworben oder weiterentwickelt hat, zu suchen? Bei ersterem, dem materiellen Status, ist es ja noch relativ leicht, unzweideutige Kriterien für Erfolg zu definieren. Mein Haus, mein Boot, mein Konto. Klare Ansage, klare Ergebnisse. Daraus resultierend klare Unterschiede zwischen den Menschen. Beim zweiten, den menschlich-persönlichen Eigenschaften, sieht‘s dann schon etwas komplexer, wenn nicht gar kompliziert aus. Wie will ich den Erfolg eines Lebenswegs beurteilen, wenn ich es mit solch schwammigen und undefinierbaren Merkmalen wie Großzügigkeit, Mitgefühl und Herzlichkeit zu tun habe? Ist im Umkehrschluss vielleicht sogar derjenige am erfolgreichsten, der sein eigenes Leben hintan und in den Dienst anderer Menschen stellt? Altruismus schlägt Egoismus?

Mit solcherlei Gedanken und Fragen im Sinn wanderte ich nun weiterhin steten Schrittes durchs ruhende Tal und bemerkte, wie so oft beim Wandern: Auch dieses Mal übertrug sich der Fluss der körperlichen Bewegung auf den der Gedanken. So ergab sich wieder einmal aus einer an sich schlichten Wahrnehmung ein ganzes Kaleidoskop an Fragen und Erkenntnissen. Ob sich aus diesem Sammelsurium an Überlegungen schließlich ein Ergebnis herauskristallisierte, war dabei von keiner entscheidenden Bedeutung. Beim Laufen ergibt es sich ja, wie beschrieben, das Ergebnis meist von selbst, vorausgesetzt man tritt nicht auf der Stelle oder dreht sich im Kreise. Man bewegt sich in den meisten Fällen fort und gelangt dabei von Punkt A nach Punkt B oder C. Dadurch hat man also immer einen gewissen Nachweis über die erbrachte Leistung. Manch ein Wanderer führt über die derart erbrachten Leistungen sogar Buch oder lässt sich dafür mittels Streckenprotokoll und Etappenstempel auszeichnen.

Dieser Nachweis ist beim Geistigen wiederum nur schwer zu führen. Wohin mich meine zwar fließenden, nichtsdestoweniger müßigen Gedanken tragen, wer vermag’s zu sagen? Mein kleiner, aber unablässig sprudelnder Gedankenstrom trug mich jedenfalls noch ein Stückchen weiter:

Vielleicht liegt in diesem Unterschied der Nachweisbarkeit gar ein tieferer Grund, warum es in einer immer mehr virtuell geprägten, das heißt nicht wirklich nachweisbaren Welt, immer mehr Menschen hinaus in die Natur zu drängen scheint? Zumindest war dies meine Wahrnehmung bzw. Beobachtung während der letzten Jahre und Jahrzehnte, die ich selbst häufig ‘am Busen der Natur’ verbracht hatte. War dieser Drang zur Natur und speziell zur wanderlichen Betätigung der Versuch, sich durch allerlei körperliche Aktivitäten zumindest von Zeit zu Zeit zu vergewissern, dass man noch lebt, und zwar an Geist und Körper? Das Wandern, Mountainbiken, Paragliding, Base Jumping, Slack Lining, Nordic Walking, Snowboarden etc. (immerhin ist der Begriff des Wanderns selbst noch nicht verdenglischt bzw. amerikanisiert) als Mittel zum Zwecke des messbaren Nachweises der eigenen Produktivität? Wo im realen Leben der Nachweis einer produktiven Lebensführung immer schwerer fällt, weil sich immer mehr in virtuellen Räumen abspielt, gewinnt vielleicht zwangsläufig der Wunsch nach realer Realität, sprich wirklicher Wirklichkeit, an Gewicht. Dass sich in der modernen Welt immer rarer machende Ganzkörpergefühl als Grundlage und eigentliche Begründung für körperliche Freizeitaktivitäten wie das Wandern? Ganz im Sinne der philosophischen Aussage ‘Jeder deiner Schritte sollte dein ganzes Gewicht tragen’?

So geschah es denn im weiteren Verlauf meiner Wanderung, dass ich tiefer und tiefer nicht nur in die mir zu Füssen liegende Natur, sondern auch und gerade in die tiefere Natur der menschlichen Existenz mit all ihren dazu gehörigen Fragen vordrang. Das Ganze vollzog sich sozusagen in Etappen. Zuerst war es die bloße körperliche Fortbewegung, anschließend die innere Bewegtheit rund um meine eigene Befindlichkeit, um schließlich in der Beschäftigung mit wahrhaft existentiellen Themen und Fragestellungen zu münden. Dabei heißt es doch, das Wandern sei in erster Linie des Müllers Lust. Wieso eigentlich? Was haben Müller und Wandern denn gemeinsam? Nun ja, dies war dann doch nur eine Übergangsüberlegung.

Worauf ich hinaus wollte, war ja viel mehr die Beschäftigung mit der Frage, was das Wandern an sich auszeichnet und welchen höheren oder auch niederen Grund für diese Art von Fortbewegung es noch geben könnte.

Angeblich hat Beethoven einige seiner besten Stücke auf mehrstündigen Wanderungen komponiert. Es wird zumindest die Legende erzählt, dass um seinen Wohnort herum immer wieder zu beobachten war, wie ein wild gestikulierender Mann mit eben solchem wilden, zerzausten Haarschopf mit einem Notenbuch in der Hand durch Feld und Flur geschritten sei. Auch Goethe soll viele seiner heute zum Nationalerbe und -schatz zählenden Dichtungen auf Schusters Rappen erdichtet haben. Wie dem auch sei, wir Deutsche scheinen ja eh einen gewissen unstillbaren Drang in uns zu haben, vorzugsweise auf eigenen Füssen zum Busen der Natur gelangen zu wollen. Wohl kaum ein anderes Land der Erde verfügt über einen solch reichhaltigen Schatz an Wanderliedern und den dazugehörigen Wandervereinen. Von der Wandervogel-Bewegung zu den Naturfreunden bis zum Alpenverein - vermutlich ist jeder Deutsche im Laufe seines Lebens zumindest einmal Mitglied eines wie auch immer gearteten Lauf- bzw. Wandervereins gewesen. Nachdem auch ich mich als Deutscher bezeichne, steckt wohl auch in mir dieses Wander-Gen. Zwar bin ich als Einsteiger im 25. Lebensjahre eher als Spätberufener einzuordnen, was meiner wachsenden Begeisterung während der nächsten 33 Jahre jedoch keinerlei Abbruch tut.

Was har dies alles nun mit den wirklich wirklich wichtigen Fragen des Lebens zu tun?

Heißt es nicht in allen philosophischen Schriften und Betrachtungen. Wo komme ich her, wo gehe ich hin? Eben ganz wie beim richtigen Wandern. Nichts ist von größerem Interesse, wie einen Start-, als auch einen Zielpunkt zu haben. Selbst jedes moderne Navigationsgerät wäre ohne diese beiden Angaben mehr oder weniger überflüssig.

Und doch ist das Wandern zur körperlichen und/oder geistigen Erbauung eine relativ ‘moderne’ Form des Zeitvertreibs. Insbesondere die Geschichte des Bergwanderns als Lustgewinn bzw. zur Befriedigung des Bewegungsdrangs hat eigentlich erst im 17. bis 18. Jahrhundert begonnen. Zuvor sahen die Menschen scheinbar keinerlei Notwendigkeit, Höhen und Täler zu erklimmen und zu durchschreiten. Im Gegenteil: Noch weit bis ins 19. Jahrhundert waren gerade die Bewohner der Bergregionen alles andere als interessiert, die höhere und weitere Umgebung ihres Heimatortes zu erforschen. Die Unwägbarkeiten der Naturgewalten flößten ihnen derart viel Ehrfurcht und Respekt ein, dass es als ratsam angesehen wurde, eine natürliche Distanz zu wahren. Es galt schließlich, die mächtigen Geister der Berge und Wälder gar nicht erst anzurufen, so dass man sich nicht der Gefahr aussetzte, sie nicht mehr loszuwerden oder gar ihr zu ihrem Opfer zu werden. Das weitergehende Interesse an der wilden, ungezähmten Natur scheint im Laufe der Geschichte eher von Menschen ausgegangen zu sein, die mehr oder weniger fernab von ihr lebten. Mit der voranschreitenden Industrialisierung kam es Ende des 19. Jahrhunderts zu einem wahren Boom an organisierten und unorganisierten Ausflügen, Sommer- wie Winterfrischler strömten aus den sich füllenden und allmählich enger werdenden städtischen Gebieten hinaus in die Natur. Sinn und Zweck dieser beginnenden Massenbewegung war und ist es wohl, nicht nur die eigenen Energiereserven wieder aufzufüllen, um überhaupt das Weiterleben in eben diesen einengenden städtischen Gebieten zu ermöglichen, sondern die eigene Seele wieder einmal baumeln lassen zu können. Schließlich findet der Mensch schon seit Aristoteles’ Zeiten ’seine wahre Erfüllung nicht in der Arbeit, er findet sie in der Muße’. Wandern und  Naturerlebnis als Fluchtpunkt, um wieder zur Besinnung zu kommen, weil der moderne Mensch in seiner modern(d)en Welt immer wieder in der Gefahr zu schweben scheint, eben diese Besinnung zu verlieren.

Solcherlei Gedanken zogen mir auf meiner Wanderung munter durch den Kopf. Und dies alles ausgelöst durch die simple Feststellung, dass ich das Knirschen unter meinen Wanderstiefeln liebe. Wie sehr doch auch der menschliche Geist das Umherwandern zu lieben scheint.