Zeiten ändern sich, Utopien bleiben
Bei der Beschäftigung mit den Rätseln dieser Welt fiel mir kürzlich mithilfe eines guten Freundes das Buch ‚Utopia’ von Thomas Morus in die Hände. In diesem mittlerweile 500 Jahre alten Werk versucht der Autor das Bild eines idealen Staatswesens zu entwerfen. Wenn wir heutzutage mit dem Begriff ‚utopisch’ unrealistische und wirklichkeitsfremde Zustände bzw. Vorstellungen bezeichnen, geht die Benutzung und Bedeutung dieses Begriffes in erster Linie auf dieses Buch zurück
Nach anfänglicher Skepsis, ob dieses altertümliche Werk mir irgendeinen Hinweis auf die Einschätzung der aktuellen Lage dieses Planeten liefern könnte, entdeckte ich immer mehr erstaunliche und letztlich erschreckende Parallelen zu heutigen Situation. Beim Lesen beschlich immer mehr das fast schon beängstigende Gefühl, dass sich im Laufe der letzten 500 Jahre seit Erscheinen des Buches nichts wirklich Wesentliches in der Gestaltung des gesellschaftlichen und vor allem zwischenmenschlichen Lebens verändert hat.
Machen Sie sich selbst ein Bild beim Lesen des folgenden Auszugs. Es geht darin um die gerechte bzw. ungerechte Verteilung des Besitzes und Reichtums in einer Gesellschaft. Natürlich ist diese Frage nicht nur in den letzten 500 Jahren der Dauerbrenner unter den gesellschaftlich relevanten Themen. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte. Und dennoch: Die Betonung der einzelnen Aspekte und Auswirkungen der ungerechten Verteilung von Reichtum haben in diesem speziellen Falle schon wirklich kurios anmutende Parallelen zu ganz aktuellen Themen, wie der immer weiter auseinander klaffenden Schere zwischen Arm und Reich, der sich trotz vorhandenem Wohlstand ausbreitenden Altersarmut oder der Frage nach dem Nutzen eines bedingungslosen Grundeinkommens.
“Ich habe euch damit möglichst wahrheitsgetreu die Form des Gemeinwesens beschrieben, die nach meiner Ansicht nicht nur die beste, sondern auch die einzige ist, welche mit Recht den Namen eines Gemeinwesens beanspruchen kann. Denn wo man sonst von Gemeinwohl spricht, haben es alle auf den eigenen Nutzen abgesehen: hier, wo es nicht Eigenes gibt, handeln sie tatsächlich im allgemeinen Interesse, und an beiden Orten hat das seine guten Gründe. Denn anderswo weiß jeder, dass er trotz der schönsten Blüte des Gemeinwesens Hungers sterben müsste, wenn er nicht für sich selbst sorgte, und darum treibt ihn die Not dazu, mehr auf sich als auf das Volk, das heißt, auf die anderen, Rücksicht zu nehmen. Hier dagegen, wo alles allen gehört, ist jeder sicher, dass keinem je das Geringste mangelt – sofern nur dafür gesorgt ist, dass die öffentlichen Speicher stets gefüllt sind.
Denn die Verteilung der Güter erfolgt großzügig, es gibt keinen Armen, keinen Bettler, und wiewohl niemand etwas besitzt, sind dennoch alle reich – oder gibt es größeren Reichtum, als wenn man ohne jede Sorge fröhlich und ruhig leben kann? Keiner hat um sein tägliches Brot zu kämpfen, keinen plagt die Frau mit ihrem Klagen und Heischen, keinen drückt die Angst, der Sohn könnte einst im Armenhaus landen, keinen quält die Frage, woher er die Mitgift für die Tochter hernehmen soll; jeder darf darauf zählen, dass er selbst und alle seine Lieben, Frau, Kinder, Enkel, Großenkel, Urgroßenkel und die ganze lange Reihe der Nachkommen, wie sie sich ein Edelmann im Geiste vorstellt, genug zu leben haben und glücklich sein werden. Und nicht weniger als für die jetzige Tätigkeit ist ja auch für die gesorgt, die früher tätig waren, jetzt aber arbeitsunfähig sind.
Da soll mir noch einer kommen und wagen, mit dieser billigen Regelung die Gerechtigkeit anderer Völker zu vergleichen: man mag mich henken, wenn sich dort auch nur eine Spur von Gerechtigkeit und Billigkeit findet. Denn wo bleibt die Gerechtigkeit, wo es folgendermaßen steht? Ein Adliger, ein Goldschmied, ein Wucherer oder sonst einer von denen, die entweder nichts tun oder doch nichts für das Gemeinwesen Nötiges, lebt herrlich und in Freuden bei seiner Untätigkeit oder unnützen Tätigkeit; der Knecht aber, der Fuhrmann, der Bauarbeiter, der Bauer, die eine so schwere und so andauernde Arbeit leisten, wie sie kaum ein Zugstier aushält, und eine so notwendige, dass ohne sie kein Staat auch nur ein Jahr lang bestehen könnte, die haben nur kümmerlich zu essen und führen ein so jämmerliches Leben, dass das Los der Arbeitstiere viel besser scheinen möchte – die Tiere müssen ja nicht so pausenlos schinden, erhalten eine Nahrung, die nicht viel geringer, für sie aber viel schmackhafter ist, und machen sich keine Sorgen um die Zukunft; die Menschen aber seufzen unter der unergiebigen, unabträglichen Form des Heute, und dazu quält sie erst noch der Gedanke an das kommende hilf- und mittellose Alter:der tägliche Lohn ist ja zu gering, um für den gleichen Tag zu genügen, geschweige denn, dass etwas herausschaut und sich erübrigen ließe, was Tag um Tag zur Verwendung im Alter gelegt werden könnte.
Ich heiße das ein ungerechtes und undankbares Gemeinwesen, das an so genannte Edelleute, an Goldschmiede und andere derartige Nichtstuer oder bloße Schmeichler und Handlanger eitler Vergnügungen solche Geschenke verschwendet, für Bauern aber, für Kohlenbrenner, Knechte, Fuhrleute und Bauarbeiter, ohne die es gar kein Gemeinwesen gäbe, keinerlei freundliche Vorsorge trifft, sondern die Arbeitskraft ihrer besten Jahre ausnützt, dann aber, wenn sie alt und krank sind und völlig mittellos, kein Gedächtnis mehr hat für so viele und so wichtige Dienste, und in schnödem Undank ihnen dafür nichts bietet, als den Tod im Elend. Und selbst vom Tagelohn der Armen zwacken die Reichen täglich noch etwas ab, nicht nur durch private betrügerische Manipulationen, sondern auch auf Grund staatlicher Gesetze: war es vorher ungerecht, treuen Dienern des Gemeinwesens mit Undank zu lohnen, so verdrehten sie das nun in sein Gegenteil und stempelten es durch ein Gesetz zu einer gerechten Maßnahme.
Wenn ich alle diese heutigen Gemeinwesen ringsherum vor meinem Geiste vorbeiziehen lasse, kann ich – so wahr mir Gott helfe – nichts anderes sehen als die reine Verschwörung der Reichen, die unter dem Namen und Titel des Staates für ihren eigenen Vorteil tätig sind. Alle Mittel und Kniffe denken sie aus, und ersinnen sie, mit welchen sie das Gut, das sie durch üble Machenschaften selber zusammengerafft haben, ohne Furcht vor einem Verlust behalten und dann noch die Mühe und die Arbeit aller Armen um möglichst geringen Preis sich dienstbar machen und ausnützen können. Haben die Reichen einmal im Namen des Staates, das heißt auch der Armen, den Beschluss gefasst, dass diese Praktiken anzuwenden seien, erhalten sie flugs gesetzliche Kraft.“
Thomas Morus Utopia
Man muss eigentlich nur einige, aus der damaligen Zeit zu verstehende Begrifflichkeiten wie den Adel und die Edelleute oder den Goldschmied (ein Berufsstand, der damals wohl nur für die wirklich Reichen von Nutzen war) durch neuere wie Geldadel oder Hedgefonds-Manager (s.o.) ersetzen – schon überrascht ein sage und schreibe 500 Jahre alter Text durch erstaunliche Aktualität!
Als Fazit kommt mir der Satz in den Sinn:
Fortschritt an sich ist noch keine Leistung, es kommt auf die Richtung an!